Buchkritik von Jürgen Thomann
Frank Kurath leidet. Er unterliegt einem ganz speziellen Schicksal. In unregelmäßigen Abständen – manchmal Monate, manchmal nur Tage – wacht er in neuen Welten in fremden Körpern auf. Jedes Mal
muss er sich wieder neu einfinden. Doch da hat er mittlerweile Routine. So lange er sich zurückerinnern kann – er dürfte jetzt um die 40 sein – unterliegt er nun schon diesen Sprüngen.
Frank vermutet, dass es mehr wie ihn geben muss. Er hat den Philosophen Nietzsche, den er verehrt, als Springer im Verdacht; so sehr spricht ihn dessen Werk an. Über eine Psychologin bekommt er dann
eines Tages den Kontakt zu einem Physiker in Wien (er findet sich oft in Wien wieder, seiner Heimatstadt). Der glaubt ihm nach anfänglichem Zögern, weil er kurz vorher den Kontakt zu einer Frau
hatte, die das gleiche behauptete. Frank ist elektrisiert: eine Schicksalsgenossin.
Er öffnet sich dem Physiker – und der erzählt ihm, dass das der Beweis für die Vielweltentheorie ist (die es in der Physik tatsächlich gibt) sei. In der Folge wird jener Prof. Seitlinger, der
eigentlich eine kleine Nummer war, in vielen Parallelwelten ganz groß raus kommen durch sein Wissen. Er stellt sich als echtes Problem heraus.
Frank aber gelingt es schließlich mit Sarah, jener anderen Springerin in Kontakt zu kommen. Und es kommt, wie man sich denken kann. Dieses Buch ist auch die Geschichte einer großen Liebe, die gegen
alle Widerstände besteht. Immer wieder treffen sie sich – und werden wieder getrennt.
Nach und nach treffen sie weitere Springer – und sie haben Pläne, die jeweiligen Linien zu verbessern. Denn nicht alle Welten sind gut. In manchen ist der Klimawandel voll durchgeschlagen, gab es
globale Finanzkatastrophen, oder KIs haben die Macht übernommen. Aber es gibt auch gute Welten, wo der Mensch den Klimawandel beenden konnte, und alles in Frieden leben, keiner mehr hat, als er
braucht. In einer solchen will sich das Liebespaar niederlassen – denn sie finden eine Möglichkeit zu bleiben. Doch es kommt alles anders.
Ralph Alexander Neumüller hat mit seinem Erstlingsroman berechtigterweise 2024 den von einer Jury des SFCD vergebenen Deutschen Science Fiction Preis gewonnen. Man merkt dem Buch an, dass es ein
Wissenschaftler (er studierte Humanbiologie) geschrieben hat. Neumüller ist in Linz geboren, deshalb auch das Umfeld, das häufig in Österreich spielt.
Woher der Roman seinen Titel bekommt, wird erst relativ spät im Roman klar, wenn Sarah ihre Theorie der Vielwelten erörtert. Mir gefällt das Bild des Nildeltas, das Frank hat, besser – viele kleine
Ströme, die teilweise versiegen, teilweise in sich übergehen. Der Protagonist ist überhaupt der Philosoph unter den Springern. Dem Leser wird dies eindrücklich veranschaulicht. Sein Leiden an der
Welt (besser gesagt den Welten) und sein Schicksal der Vereinsamung haben ihn dazu gebracht in die Initiative zu gehen. So endet das Buch hoffnungsfroh.
Interessant zu wissen wäre, ob Frank aus unserer Welt kommt. Der Text legt etwas Anderes dar. Eine Welt, die unserer sehr ähnelt kommt jedenfalls vor. Es ist die Frage, ob alle Springer aus derselben
Welt kommen.
Ein weiteres Thema ist die Frage, wie eigentlich die Wirte ihrer Transfers nach dem Wegspringen verbleiben. Ahnen sie, dass sie „besessen“ waren? So schildert Sarah, dass sie ihrer Mutter erzählt
hat, was ihr widerfährt – und die hat ihr geglaubt. Was aber ist zurückgeblieben, als sie für immer weggesprungen ist? Welche Sarah blieb zurück?
Ebenfalls interessant ist der Fakt, dass sich die wenigen Springer (es wird einmal von einem Achtel Prozent der Bevölkerung gesprochen, aber ich glaube, es sind weniger) immer wieder treffen. Sind
sie über die Welten irgendwie verbunden? Der Roman gibt sich da vage und lässt Raum für Interpretationen.
Mir hat „Das Stoffuniversum“ sehr gut gefallen. Es ist ein spannender Roman, der auch ein gutes Niveau aufweist. Neumüller hat mit „Das zweigeteilte All“ 2024 einen weiteren Roman geschrieben,
ebenfalls erschienen bei p.machinery.
p.machinery, Andro SF 94, 2023, 220 Seiten, ISBN 978-3-95765-356-7