Es hat mich seinerzeit ziemlich überrascht, dass ein Roman von Alasdair Grey verfilmt wurde. Ein Autor, der mich schon fast 25 Jahre fasziniert, und von dem ich schon
Romane gelesen habe. So war ich erfreut, welche Resonanz der Film bekommen hat, nicht zuletzt an dem Oscar für Emma Stone als beste Hauptdarstellerin zu erkennen.
Der angehende Arzt Max McCandles wird vom genialen Chirurgen Godwin Baxter engagiert, die Fortschritte von Bella Baxter, seinem "Geschöpf" zu dokumentieren. Die ist ein Kleinkind im Körper einer
jungen attraktiven Frau, dementsprechend ist es schwer, es im Zaum zu halten. Ein Kind, das sehr schnell lernt und seinen Körper erkundet. Und dabei Sexualität und Selbstbefriedigung entdeckt. Godwin
Baxter ist selbst das Geschöpf seines Vaters, der ihn durch Experimente verunstaltet hat. Aber bei Bella ist es anders. McCandles findet heraus, dass Bellas Körper der einer hochschwangeren
Selbstmörderin war, dem Baxter das Gehirn ihres ungeborenen implantiert hat. Baxter schafft hybride, groteske Geschöpfe. Der Assistent entwickelt Gefühle für Bella. Baxter will das in Bahnen lenken,
und arrangiert die Heirat der beiden, mit der auch das angehende Paar einverstanden ist. Doch als Baxter wegen des Ehevertrages den windigen Anwalt Duncan Wedderburn hinzuzieht, nimmt die Geschichte
eine neue Wendung. Der Anwalt lernt Bella kennen, und will sie für sich haben. Baxter sieht ein, dass er nicht mehr über Bella bestimmen kann und lässt sie mit Wedderburn verreisen. Es wird eine
Lustreise, im wahrsten Sinne des Wortes. Doch während Bella geistige Interessen entwickelt, wird Wedderburn besitzergreifend und wird gegenüber denen, die Interesse an Bella zeigen, eifersüchtig,
Bella entwickelt sich auch moralisch weiter und wird immer selbständiger. Das zeigt sich in Marseille, und in Paris steht sie endgültig auf eigenen Beinen und verdient als Prostituierte ihr Geld, was
logisch erscheint, hat sie doch nichts anderes als ihren Körper und ihren Verstand. Als sie einen Brief bekommt, dass ihr Vater im Sterben liegt, kehrt sie zurück. Sie tritt ihm als junge Dame
gegenüber, die in seine Fußstapfen treten will. Sie will auch X heiraten, doch gerade jetzt holt die Vergangenheit sie ein. Die Selbstmörderin war die Ehefrau eines Generals, der geradezu das Prinzip
des kriegerischen und beherrschenden Mannes verkörpert. Doch Bella ist gereift und furchtlos.
Das Problem einer solchen Inhaltsgabe ist es, dass sie den Eindruck eines realistischen Films vermittelt. Doch das ist Poor Things bei weitem nicht. Der Film ist eine phantastische Groteske, die mit
Motiven des Frankenstein-Stoffes spielt. Die männlichen Figuren sind fast alle Zerrbilder, verkörpern tradierte und pervertierte Rollen. Bella selbst kann man auch nicht als realistischen Charakter
sehen. Der Film kreiert um Bella eine ganz eigene Welt, die auch Steampunk-Elemente enthält . Nur so funktioniert der Film.
Gerade diese gewollte Künstlichkeit hat mich für den Film eingenommen. Sie passt zur Geschichte und schafft eine besondere zeitlose Atmosphäre. So kann sich das Mensch-Sein als Geschöpf zugleich
grotesk humorig und empathisch wirksam werden. Zugleich Weiblichkeit als männliche Schöpfung und Emanzipation der Frau durch Wissen einen ganz eigenen ästhetischen Rahmen geben.
Die Musik trägt mit zum Gelingen des Films bei. Aber natürlich auch die Leistungen der Schauspieler, allen voran Emma Stone, Willem Daffoe und Mark Ruffalo, alles Hollywood-Schauspieler, die
hier mehr als im Mainstream-Kino ihr Potential ausschöpfen können.
Großbritannien 2023, Länge: 141 Minuten, Altersfreigabe: FSK 16, Regie: Giorgos Lanthimos, Drehbuch: Tony McNamara, Produktion: Ed Guiney, Giorgos Lanthimos, Andrew Lowe, Emma Stone, Musik: Jerskin Fendrix, Kamera: Robbie Ryan, Schnitt: Yorgos Mavropsaridis